DDR-Radiolegende Lutz Schramm "Was die sogenannten anderen Bands produziert haben ist einzigartig"
Ab Mitte der 80er verkörperte eine ganze Riege junger, unangepasster Bands mit ihrer Musik das Lebensgefühl der DDR-Jugend und prägte somit den Sound der Wende. Maßgeblichen Anteil daran hatte Lutz Schramm mit seiner Sendung "Parocktikum". Er spielte die Kassetten dieser Gruppen und verhalf ihnen zu professionellen Aufnahmen.
hr1: Wie waren die Anfänge der Underground- und Independent-Szene in der DDR?
Lutz Schramm: Die unabhängige Musikszene in der DDR hat eigentlich schon Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre zu existieren begonnen, zumindest was Punk und New Wave angeht. Als in England und in Westdeutschland Punk aufkam, hat man das natürlich auch in der DDR mitbekommen. Musikinteressierte Jugendliche haben dann im Laufe der Zeit natürlich Lust bekommen, selbst Musik zu machen. Sie haben Bands gegründet, Punkmusik gespielt, sich wie Punks gekleidet und sind so auch auf der Straße herumgelaufen. Was dann relativ schnell dazu geführt hat, dass der Staat dagegen aktiv geworden ist. Anfang der 80er Punk in der DDR zu sein hat definitiv bedeutet, dass man von der Polizei jederzeit aufgegriffen werden oder zur Armee einberufen werden konnte, um aus dem Verkehr gezogen zu werden. Oder man kam sogar ins Gefängnis.
hr1: Dieses restriktive Vorgehen hat sich aber mit den Jahren geändert. Wie kam es dazu?
Lutz Schramm: Mitte der 80er hat in der DDR-Kulturpolitik eine gewisse Öffnung stattgefunden. Das hing auch mit Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion zusammen. Man konnte als unabhängige Band so um 1985 herum durchaus auch mal eine staatliche Einstufung bekommen oder mal in einem Jugendclub spielen. Da war also schon einiges möglich und in dieser Zeit wurden auch viele Bands gegründet. Oder vorher existierende Bands tauchten mit neuer Besetzung und mit neuem Namen wieder auf.
hr1: Wie kamen Sie auf die Idee zu Ihrer Sendung "Parocktikum"?
Lutz Schramm: Ich arbeitete zu der Zeit noch als Tontechniker beim Rundfunk, legte als DJ in Clubs Musik auf und interessierte mich schon immer sehr für die unabhängige Musik. Das Konzept habe ich mir dann überlegt, als Ideen für Spezialsendungen bei DT64 entwickelt wurden. Ich wollte einmal im Monat eine Sendung mit ungewöhnlicher Musik - von Reggae über New Wave bis zu experimentellen Klängen - machen. Im März 1986 konnte ich dann loslegen. Die Idee für den Namen "Parocktikum" hatte ich aber schon während meiner Armeezeit. Da bin ich viele Nächte um die Munitionslager irgendeines NVA-Stützpunktes gelaufen und habe mir immer überlegt, wie es wäre, wenn ich meine eigene Sendung beim Radio hätte. Das wäre dann eine Art Rock Panoptikum - also ein Parocktikum. So kam es zu dem Namen.
hr1: Wie wurde Ihre Sendung dann zur Plattform der DDR-Indie-Szene?
Lutz Schramm: Ich bin ja nicht mit dem Anspruch an diese Sendung herangegangen, die Indie-Szene der DDR aufzurollen. Ich hatte zu Beginn ja kaum unabhängiges Musikmaterial aus der DDR, abgesehen von einigen Songs der Band Hard Pop, deren Version von "Katjuscha" zum Vorspann der Sendung wurde. Aber irgendwann habe ich dann von verschiedenen Musikern Kassetten bekommen. Das erste Tape war von der AG Geige aus Karl-Marx-Stadt. Da war ich hellauf begeistert, weil das genau das war, was ich gesucht habe. Ein anderes Tape kam von Aufruhr zur Liebe aus Berlin und ein weiteres von Die Art aus Leipzig. Die Songs habe ich in der Sendung verteilt gespielt und dazu immer gesagt, dass das Kassetten von Bands aus Karl-Marx-Stadt, Leipzig oder Berlin sind. Und das hat dann dazu geführt, dass andere Musiker mir auch ihre Bänder schickten.
hr1: Wie viele Kassetten waren das und wonach wurde ausgewählt, was gespielt wurde?
Lutz Schramm: 1987 bekam ich schätzungsweise 20 Tapes im Jahr. 1988/89 wurde das noch mehr. Die Musikzusammenstellung lag komplett in meiner Hand. Es lief internationale Musik aus dem Rundfunkarchiv und Platten, die mir Freunde oder meine Großmutter über die Grenze trugen. Bei der Musikauswahl der DDR-Bands habe ich mir gewisse Grenzen gesetzt bzw. Grenzen erspürt, die durch die politische Konstellation und meine Arbeit beim DDR Staatsrundfunk gegeben waren. Nicht gespielt habe ich Songs, die sich gegen den Staat wendeten oder die Themen ansprachen, die in der DDR tabu waren. Ästhetische Grenzen gab es nicht. Es konnte wild, schräg und laut sein.
hr1: Wie war die Reaktion der Verantwortlichen bei DT64 auf das Parocktikum?
Lutz Schramm: Im Sender fanden es nicht alle gut. Aber es gab relativ tolerante Haltungen. Und es gab eine fürsorglich kritische Beobachtung. Ich bin relativ selten an Punkte gestoßen, wo Dinge überhaupt nicht gingen oder mir gesagt wurde, ich darf das nicht spielen oder hätte das nicht spielen dürfen. Doch es gab eben auch dieses Beispiel: 1989 wurde im DDR-Rundfunk gesagt, wir berichten nicht über Neonazis in der DDR. Es durfte keine Neonazis in der DDR geben. Nun spielte ich in meiner Sendung relativ oft Anti-Nazi-Songs. "Nazi Punks Fuck" von den Dead Kennedys, "Gebt den Faschisten keine Chance" von den Mimmis oder "Neonazis" von der Band Papierkrieg aus Frankfurt Oder. Dann hieß es, dass ich alle Anti-Nazi-Stücke spielen durfte, bis auf Papierkrieg mit dem Titel "Neonazis". Denn das war eine DDR-Band, die über Neonazis sang.
hr1: Wurden Sie von der Stasi beobachtet?
Lutz Schramm: Natürlich gab es Beobachtungen. Es gibt Aufzeichnungen darüber, dass die Stasi wusste welchen Besuch ich aus dem Westen hatte. Als ich einen Song der Fanatischen Frisöre aus Erfurt gespielt habe, kam am nächsten Tag der Musikchef zu mir. Ihm sei mitgeteilt worden, dass die Band keine Spielerlaubnis habe und wie es denn sein könne, dass sie trotzdem bei DT64 gespielt wird. Da hat also irgendein Stasi- oder Kulturpolitiker in Erfurt die Sendung gehört und gewusst, dass die Fanatischen Frisöre keine Einstufungen haben und sich gemeldet. Wie sich später herausgestellte, hatte aber nicht die Band selbst, sondern ein Fan deren Kassette geschickt. Aber ich habe bis auf diese eine Episode persönlich nichts von Beobachtung gespürt. Es war aber wohl auch so, dass wenn ein DDR-Kulturpolitiker sagte, wenn eine Band im Parocktikum gelaufen ist, dann ist die in Ordnung.
hr1: Einige Bands konnten dank Ihnen professionelle Aufnahmen machen. Wie kam es dazu?
Lutz Schramm: Dazu kam es, weil ich das Bedürfnis, in meiner Sendung DDR-Musik zu spielen, nicht allein mit Kassetten befriedigen konnte. Da war die Qualität nicht so gut und es gab auch nicht genug Material. Ich kam dann 1987 auf die Idee, Konzerte zu organisieren und diese mitschneiden zu lassen. Damit kam die dort aufgenommene Musik ins Rundfunkarchiv und konnte im Radio gespielt werden. Die nächste Stufe war dann, dass wir einen Ü-Wagen genommen haben und nach Karl-Marx-Stadt gefahren sind. Dort hat die AG Geige dann quasi eine Studioproduktion gemacht. Im Ü-Wagen war eine 16 Spurmaschine, die Musiker haben sich aufgebaut, alles wurde verkabelt und mit Mikrofonen versehen und dann aufgenommen. So wie man das auch im Studio machen würde. Es war ein Prozess: Konzertmitschnitte, Semi-Studio-Produktion und irgendwann 88/89 war es dann soweit, dass wir auch in den richtigen Studios produzieren konnten. Da entstanden teilweise auch schon Aufnahmen, die dann auf den ersten Parocktium-Sampler kamen.
hr1: Gab es auch Bands, die nicht in Ihrer Sendung gespielt werden wollten?
Lutz Schramm: Es gab definitiv Bands die von vornherein gesagt haben, sie wollen im Staatsradio nicht zu hören sein. Es ist mir sogar passiert, dass ich Musiker gespielt habe die dann hinterher gesagt haben: "Um Gottes Willen was machst du da. Du solltest dir die Aufnahmen nur anhören, nicht senden. Jetzt wissen die Leute was ich treibe und die Stasi wird drauf aufmerksam." Da wurde mir mal wieder bewusst, dass es verschiedene Welten in dieser DDR gibt. Dass es Menschen gibt, die Punk nicht nur als Musik, sondern als eine Lebensweise und politisches Statement verstehen. Und wenn ich im Radio lustig Punkmusik spiele, ohne dass mir was passiert, ist das die eine Geschichte. Die andere Geschichte aber ist, dass da draußen immer noch Leute sind, die, wenn sie in Zwickau oder in Saalfeld über die Straße gehen, vom ABV angehalten werden. Oder denen bei der Einstufungsprüfung gesagt wird, dass sie nicht die richtige Musik spielen, nicht die richtigen Texte haben und deshalb nicht auftreten dürfen.
hr1: Für viele dieser Bands war nach der Wende Schluss. Ist der Wegfall der DDR auch mit einem Themenverlust für diese Bands einhergegangen?
Lutz Schramm: Mit der Wende sind ja verschiedene Dinge passiert. Die Bands, die sich am Staat DDR gerieben haben, hatten keine Gründe mehr gegen diesen Staat zu sein. Es gab ihn nicht mehr, es gab auch keine Stasi mehr. Allerdings waren der neue Staat und Kanzler auch nicht das, was man toll fand. Und die Nazis haben sich auch nicht in Luft aufgelöst. Es gab immer noch genügend Themen mit denen man sich beschäftigen konnte. Das Ding war allerdings, dass sich auch die wirtschaftlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen komplett geändert haben. Es gab jetzt unendlich viele Möglichkeiten für die Bands. Sie konnten im Ausland spielen. Und das ist Ende 1989, Anfang 1990 auch ganz oft passiert. Aber dieser Effekt, da kommen die Bands aus dem Osten, ist schnell wieder verpufft. Die Bands mussten sich mit westdeutschen und internationalen Bands messen. Das war nicht allen möglich. Sowohl in technischer als auch organisatorischer Hinsicht. Aus diesem Grunde haben sich einige Bands aufgelöst. Aber andere haben es geschafft, zum Beispiel Sandow, Die Skeptiker oder Die Art, von denen man bis heute immer noch spannende Sachen hört.
hr1: Haben Sie eine persönliche Wendehymne?
Lutz Schramm: "Bakschischrepublik" von Herbst in Peking. Das Stück beschreibt diesen Übergang vom Frühling in Peking zum Herbst in der DDR mit der gefallenen Mauer am besten.
hr1: Wie schätzen Sie die Musik der DDR-Independet-Bands aus heutiger Sicht ein?
Lutz Schramm: Ich finde das, was die sogenannten anderen Bands an unabhängiger Musik produziert haben, einzigartig. Und zwar in dem Sinne, weil es so nur unter den Bedingungen entstehen konnte, unter denen es entstanden ist. In dieser DDR, in diesem abgeschlossenen Kulturtopf, in dem es eben keinen freien Zugang zu Equipment gab. Es gab keine Möglichkeit, sich wirklich komplett frei zu äußern. Man musste immer Kompromisse eingehen. Oder man konnte nur im echten Underground stattfinden, wo man, wenn man Pech hatte, in den Knast kam. Und unter diesen Bedingungen hat jede Band mit primitivsten Equipment minimalste Musik zusammengebastelt und produziert, was produziert werden konnte. Deswegen halte ich diese Musik, die da entstanden ist, in ihrer ganzen Breite für was Tolles und Einzigartiges.
hr1: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Lars Schmidt.
Sendung: hr1 am Samstagmorgen, 9.11.2019, 6-9 Uhr